Wie geht’s eigentlich der Essigfabrik, fragte mich hier vor kurzem Croco. Die Esslinger Essigfabrik Hengstenberg ist über die Grenzen gut bekannt. Als Kind wurde mir sogar gesagt, dass der Name Esslingen eigentlich von Essiglingen komme.
Doch leider – von der Essigfabrik ist nichts mehr zu sehen. Fährt man an der Mettinger Straße vorbei, so ist noch die Villa da, wenn auch angeknabbert und ein kirchturmartiges Gebilde. Ein kläglicher Rest:


Die Firma Hengstenberg ist 1876 von Richard Alfried Hengstenberg als Essigfabrik Kallhardt & Hengstenberg gegründet worden, recht bald (1878) übernahm Hengstenberg die gesamte Firma. Der kleinen aufblühenden Fabrik in der Esslinger Altstadt wurde diese Altstadt bald zu eng und so wurde 1895 an diesem Standort gebaut. Der Esslinger Architekt Hermann Falch baute die erste Fabrik ganz am Rande des neuen Stadtteils Weststadt (der aber damals nicht so hieß!) Fabrik und Fabrikantenvilla wurden, wie damals üblich direkt nebeneinander gebaut, sie hatten sogar eine gemeinsame Heizanlage.

Der Zugang von links ging zur Villa und zu den Verwaltungsräumen im Erdgeschoss, von rechts kam man zum Fabrikteil. Hier wurden nun auch eingelegte Gurken und Senf hergestellt. Die Gebäude waren unterkellert, zur Lagerung und Reifung des Essigs. Die Fabrik wurde Anfangs des 20. Jahrhunderts mehrmals an- und umgebaut. Es wurde dabei darauf geachtet, dass die Schauseite ein einheitliches Bild bekam, dies war aber nicht die Mettinger Straße, die Schauseite war zur Eisenbahn hin. Hier fuhren potentielle Kunden, zur damaligen Zeit wurde ein Fabrikgebäude durchaus als Werbung für das Produkt verstanden.

Beide Bilder aus den Esslinger Studien, Bd. 36
Gabriele Kreuzberger-Hölzl, Fabrikbauten in Esslingen – Beispiele für die Entwicklung des Industriebaus im 19. und 20.Jahrhundert
Hengstenberg traf den Nerv der Zeit, denn im beginnenden 20. Jahrhundert wurden immer mehr Fertigprodukte verwendet, es gab ja auch immer mehr arbeitende Frauen, für die diese Produkte eine Erleichterung waren. 1932 wurde hier das erste pasteurisierte Sauerkraut hergestellt. Die Esslinger Zeitung schreibt dazu:
„Die Anregungen für seine Erfindung hatte Richard Hengstenberg aus den USA mitgebracht. Bevor es ihm aber gelang, den Gärungsprozess in den Griff zu bekommen, war es in der Mettinger Straße zu einigen Explosionen gekommen.“
Obwohl zu Hochzeiten an bis zu 13 Standorten produziert wurde, gab es an der Mettinger Straße in Esslingen bis 2010 noch eine Produktion. Jeder Esslinger kennt den typischen Essiggeruch, er ist ein Stück Heimat.

Das Wappen der Firma Hengstenberg mit dem sich über dem Berg aufbäumenden Hengst.
2009 verkaufte die Firma Hengstenberg das Areal und zog mit der Verwaltung ins Esslnger Industriegebiet. Das Grundstück bekommt nun schrittweise neue Nutzungen, die Volkshochschule ist hier seit 2011 untergebracht, es entstehen nach und nach ein Studentenwohnheim, eine Kindertagesstätte, eine Zahnarztpraxis, Büro und Verwaltungsflächen für die Caritas, den Neckar-Elektrizitätsverband (NEV) und die Esslinger Wohnungsbau (EWB). „In einem bestehenden Gebäude wird außerdem eine kleine Markthalle untergebracht.“ schreibt die Esslinger Zeitung.
Es ist schön, dass das Areal neue, vielfältige Nutzungen bekommt. Allerdings wird die Markthalle n i c h t in den historischen Gebäuden entstehen. Diese sind nämlich abgerissen. Weg. Man sagt, der Essigdampf habe die Mauern so geschwächt, dass sie nicht mehr zu erhalten waren. Dies kann ich nicht wirklich beurteilen, nach allem, was so in Esslingen passiert, halte ich es nicht unbedingt für glaubhaft.
Der Zwieblinger fragte sich Anfang 2012 schon: „Soll von einem U nur ein L bleiben?
Heute ist nicht mal mehr das L übrig, nur noch ein paar Versatzstücke. (Im Beitrag vom Zwieblinger ist auf einem Bild von oben der gesamte Komplex zu sehen)
In den Zeitungen stand es schließlich ganz anders:
„So bleibt in dem charakteristischen Komplex mit Klinker, Fachwerk und Turm, der um einen Neubau ergänzt wird, noch Platz für ein Fitness- und Gesundheitszentrum, für eine Markthalle und für einen Gastronomiebetrieb. , wobei die alten Gebäudeteile lediglich noch ihre Schale behalten, während innen alles neu wird.“
Die EWB wolle die Hengstenberg-Villa mit der alten Fabrikhalle als identitätsstiftend erhalten. Die Marke Hengstenberg sei in Deutschland schließlich bekannter als die Stadt Esslingen. „Es ist uns ein Anliegen, dass die Abrissbirne hier haltmacht.“
Wie gesagt, die neuen Nutzungen sind sehr gut und es ist auch schön, dass das Areal nun begehbar ist. Denn für die Esslinger ist die Firma Hengstenberg immer ein wichtiger Teil ihrer Stadt gewesen, aber auf dem Fabrikgelände war man natürlich nicht.
Aber es fehlt ein wichtiges Erinnerungsstück. Erinnerung braucht einen Raum. Es wäre schön, wenn man beim Besuch der Markthalle oder des gesamten Areals hier noch den „Essiggeruch erahnen könnte“ und nicht einfach nur zwei billige Versatzstücke zwischen austauschbaren Neubauten herumstehen.
Schade, hier wurde eine Chance verpasst. Und wenn es tatsächlich Gründe gab, die essiggetränkten Mauern abreißen zu müssen, wieso wurde es nicht erklärt? Hier hätten Informationen weitergeholfen. Ich höre bei den Esslinger im Moment sehr viel Wut heraus, dass hier schon wieder ein wichtiges Stück Esslinger Industriegeschichte vernichtet wurde. Gerade am Tag des offenen Denkmals wurde uns das sehr deutlich gesagt.
Und ich frage mich, wie steht die Firma Hengstenberg dazu? Findet sie es schade, dass die Gebäude abgerissen wurden? Oder ist sie insgeheim froh, dass „der alte Kruscht“ weg ist, wie so oft über alte Gebäude gesprochen wird? Auch in Esslingen, in einer Stadt in der doch viele Menschen verstehen, dass sie von und mit ihrer Geschichte leben.
Ich vermute mal, es wurde auch nichts dokumentiert.
Vor einiger Zeit hab ich von den Neubauten schon einmal Fotos gemacht. Hier fand ich das Miteinander von Neu und Alt noch spannend. Aber es gibt kein Miteinander mehr.




Hier war die Villa noch Teil des Ensembles. Es war nie eine freistehende Villa.
Leider war das alte Fabrikgebäude nicht unter Denkmalschutz. So kann man aber dem Denkmalschutz nicht vorwerfen, die denkmalgeschützten Gebäude werden zu streng beurteilt. Wenn alles andere, was nicht unter Denkmalschutz ist, irgendwann verschwindet oder zur Fassadenattrappe reduziert wird, ist der Denkmalschutz für die verbleibenden Gebäude umso wichtiger. Eben auch für die Erinnerung, was Esslingen eigentlich ausmacht und was diese Stadt groß gemacht hat.
Ich selbst habe im Moment jede Lust verloren, Hengstenberg-Produkte zu kaufen. Schade.