Eigentlich hatte ich gar keine Zeit. Uneigentlich kann ich nicht wegsehen, vom #Aufschrei, der durch Twitter geht. Es ging mir wie Jamie. Je mehr ich lese, desto mehr erinnere ich mich.
Wenn normalerweise zu einem Thema sehr viel geschrieben wird, mache ich mir lange meine Gedanken und oft kommt dann der Punkt, an dem ich denke, nun ist alles von allen schon gesagt worden, ich kann nur noch dem einen oder anderen zustimmen oder auch nicht. Aber gerade bei diesem Thema ist jede Stimme wichtig. Deswegen hier noch meine Gedanken dazu, auch wenn sie vielleicht so oder ähnlich schon geschrieben sind.
Es ist ja schon gesagt worden, es geht nicht um Brüderle, es geht nicht um einen Vorfall. Aber es geht darum, dass solche Vorfälle stattfinden, jeden Tag, und dass es „ein Tabubruch“ ist, darüber zu schreiben. Ja, Belästigung, Sexismus usw. ist tatsächlich ein Tabu. so sehr, dass wir es selbst verdrängen. Und deswegen ist es so wichtig, dass sich so viele Frauen erinnern und laut sagen, was sie tagtäglich erleben. Es sind ganz unterschiedliche Erlebnisse, viele kleine Geschichten, die für sich als gar nicht so tragisch gesehen werden. Weil wir auch gelernt haben, diese Begebenheiten schnell wieder zu verdrängen. Aber auch Geschichten, die so tragisch sind, dass die betroffenen Frauen nicht darüber reden können. Was wir sehen ist ja nur die Spitze eines Eisbergs, es sind viele, viele Erinnerungen, jede ein Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen. Es sind eben keine Lappalien. Und die Beurteilung, ob es Lappalien sind, darf nicht den Nicht-Betroffenen überlassen werden.
Ich finde es ungeheuer wichtig, all diese vielen Begebenheiten zu lesen, gerade in ihrer Häufung. Bringt das was, all diese Aufschreie? Ja, weil diese Häufung erst zeigt, wie alltäglich Sexismus ist.
Das Schöne an #aufschrei: Ich merke, dass ich nicht alleine bin. Das Schlimme an #aufschrei: Ich merke, dass ich nicht alleine bin.
— Fräulein M. (@Frollein_M) January 25, 2013
Alle Frauen, die ich kenne, haben Abwehrstrategien, wie sie Sexismus oder Übergriffe verhindern. Alle. Den wenigsten Männern ist dieses Problem in seiner alltäglichen Masse überhaupt klar.
Ich war ein Jahr in Paris und dort war das Thema Übergriffe leider ständig präsent. Interessant ist ja, wie ich mich selbst dabei verändert habe. Schon bei meinem ersten Paris-Besuch mit 17 wurde ich in der Metro angetatscht. Damals dachte ich, ich bilde mir das nur ein. Bei meinem Studienaufenthalt wurde mir klar, es ist real. Die ersten Male war es mir selbst unangenehm, womöglich wurde der Mann nur durch das Gedränge zu ungünstig auf mich geschubst? Ich wollte es zuerst nicht wahrhaben, habe den Mann entschuldigt. Später wurde ich wütend und noch später war meine Reaktion auf ein Antatschen in der Metro die, dass ich dem am nächsten stehenden Mann mit aller Kraft auf die Zehen getreten bin. Wohl wissend, dass ich vielleicht einen Falschen treffe, aber die Wut über die ständigen Angriffe führte dazu. Und dies nicht nur einmal. In der Regel sah ich am Gesicht des Mannes, dass ich nicht den Falschen getreten habe.
Es gab noch viele andere Begebenheiten. Das Problem ist ja die Ohnmacht, nicht reagieren zu können, wehrlos zu sein. Mir fiel das vor allem im Ausland auf, wenn man sprachlich noch an Grenzen kommt, fühlt man sich noch hilfloser (erste Gegenmaßnahme im Ausland war immer, die entsprechenden Schimpfworte in der Landessprache zu lernen.)
Mein Aufenthalt in Paris war lehrreich, weil man in einer anderen Umgebung sehr viel besser wahrnimmt, wie man reagiert. Ich habe Abwehrstrategien gelernt: unbelebte Straßen meiden, schneller laufen, bereit sein, sich zu wehren, Schimpfworte zu lernen, bereit sein, zuzuschlagen, gleich Grenzen zu setzen – jede Frau kennt das. Ich habe mich versucht, zu schützen. Hinterher wurde mir dann vorgeworfen, ich sei unweiblich und hart geworden. Auch das ist keine Seltenheit. Entweder ich bin selbst schuld, weil ich mich aufreizend anziehe oder ich bin eine Spassbremse oder ich bin zu hart geworden. so oder so.
Ich war nicht bereit, deswegen weniger auszugehen. Als Stadtplanerin wird mir aber immer wieder bewusst, wie viele Frauen sich selbst beschränken aus Angst. Wie viele Frauen gehen abends nicht aus, wenn sie nicht abgeholt werden oder selbst ein Auto haben. Wie viele Frauen nehmen lieber das Taxi auch wenn sie eigentlich kein Geld dafür haben. Wie viele Mütter sagen ihren Töchtern, bleibt lieber daheim.
In Paris habe ich viel mit anderen Studentinnen aber auch mit Studenten darüber gesprochen. Viele Studenten haben unser Problem verstanden. (Nein! Ich korrigiere mich selbst, es ist eben nicht allein u n s e r Problem) In Paris wurde damals eine Frau, die mit einem Mann unterwegs war, nicht angebaggert. „Weil es das Anrecht des M a n n e s ist, mit seiner Frau in Ruhe spazieren können.“ Man kann sich gar nicht genug darüber ärgern.
Mir ist selbst sehr wenig passiert, ich habe auch gelernt, mich zu wehren. Dadurch strahle ich vielleicht mehr Sicherheit auf der Straße aus. Ich ertappe mich dabei aber auch beim Gedanken, „man muss nur wollen, wenn ihr Euch entsprechend verhaltet, passiert Euch nichts.“ Damit schiebe ich den Frauen wieder die Verantwortung zu. Es kann aber nicht das Kriterium sein, ob ich mich genügend wehren kann.
Kann es sein, dass nur noch die Frauen sich raustrauen, die in der Lage sind, sich zu wehren? Kann es sein, dass ich im Ausland als erstes Schimpfworte lernen muss? Kann es sein, dass ich nur noch das Recht habe, mich sicher zu fühlen, wenn ich Selbstverteidigungstechniken gelernt habe? Kann es sein, dass ich nichts sage, aus Angst hinterher zu hören, „war doch nur Spass, stell Dich nicht so an“?
Geht das nicht gegen Männer? Nein, natürlich geht es nicht darum, alle Männer an den Pranger zu stellen. Wer das nicht begriffen hat, der muss noch verdammt viel lernen. Es geht hier nicht nur um Frauen. Es geht um das alltägliche Miteinander. Nochmals: Es geht nicht um Ausnahmesituationen, von denen man hört, dabei kurz denkt „schlimm, schlimm“ und sie wieder vergisst. Es geht darum was alle Frauen schon erlebt haben und jeden Tag erleben müssen und das geht die gesamte Gesellschaft etwas an.
Ich freue mich, dass auch Männer sich beteiligen, sie machen sich Gedanken und nehmen wahr, was Frauen alltäglich erleben, fragen sich, wie sie selbst reagieren können.
Es geht nicht um Frauen oder Männer. Distanzlosigkeit, Dummheit und Grenzüberschreitungen haben kein Geschlecht. #aufschrei
— Mirko K. (@mirkuss) January 25, 2013
Anders als viele Männer glauben geht es nicht um Attraktivität sondern es geht um Macht. Und Ohnmacht.
Wohlgemerkt:
Dass man sich auch wehren kann, macht Alltagssexismus übrigens immer noch nicht zu einem akzeptablen Sozialverhalten. #aufschrei
— anneschuessler (@anneschuessler) January 25, 2013
Es ist gut, sich wehren zu können. Es kann aber nicht die einzige Lösung sein.
Ich würde mir wünschen, dass sich noch mehr Männer des Themas bewusst werden. Selbstverständlich geht es nicht um alle Männer, deswegen ärgern mich die beleidigten Ausrufe, wir würden hier nur alle Männer an den Pranger stellen.
Ein Bewusstseinswandel beinhaltet auch, dass man darüber sprechen kann und muss. Es sind alle gefragt! Und jeder Mann, der gar nicht wissen will, was Frauen täglich erleben, jeder Mann der sich nicht bewusst macht, wie viele Situationen er gar nicht nachvollziehen kann, jeder Mann, der nur mitlacht bei blöden Witzen, weil er nicht als Weichei dastehen will, jeder Mann der das ganze ins Lächerliche zieht, jeder Mann, dem nur einfällt „Meine Frau darf abends nicht alleine im Wald spazieren gehen, das verbiete ich ihr“, jeder Mann der wegschaut ist genauso Teil des Problems.
Der #Aufschrei fing heute nacht an und ist auf einmal eine große Welle geworden. Ich hoffe einfach, dass dies nur der Anfang einer Diskussion ist. Denn sie ist längst überfällig.
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Diese Debatte zeigt schon ihre ersten Folgen: Endlich gibt es keinen Schutzraum für einen Täter mehr. Denn jetzt muss er fürchten, dass sein Name öffentlich wird – nicht nur der Spitzenpolitiker, sondern auch der Exfreund oder Chef:
http://deraufschrei.wordpress.com/2013/01/27/endlich-werden-die-tater-genannt/
Ein Restaurantleiter eines gut frequentierten Münchner Innenstadtlokals, in dem ich mal eine Weile gekellnert hatte, war ein Grapscher ersten Ranges. Eines Abends, wir warteten allesamt in der Küche auf die Ausgabe eines vorbestellten Festmenüs für etliche Zig-Personen, rügte er mich für irgendeine Kleinigkeit. Und ich nutzte die Gelegenheit, ihn vor versammelter Mannschaft, sämtliche Kollegen/innen, der gesamten Küchenbrigade, Küchenchef, zwei Restaurantleiterkollegen, sowie dem Direktor des Etablissements bloß zu stellen. Hat gewirkt. Allerdings hat der Kerl die nächstbeste Gelegenheit genutzt, mir zu kündigen…
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